Leseprobe "Unvollendet"

Kapitel 1

 

 

 

Zürich

Samstag, 29. August 2015

 

Leonie, wo bist du?

Benjamin bemerkte, dass die Anwesenden allmählich unruhig wurden. Im Minutentakt drehten sie ihre Köpfe Richtung Tür, schauten auf die Uhr und wechselten fragende Blicke miteinander. Flüsterlaute gingen durch die Menge, Kinder zappelten auf den Bänken, ein Baby schrie. Selbst der Pfarrer wirkte nicht mehr so gelassen wie noch vor zwanzig Minuten und schob wiederholt das Rosengesteck auf dem Altar hin und her. Benjamin stand neben ihm und betrachtete das hochgewölbte, gotische Querschiff der Kirche, dessen Orgel wie eine Krone über dem Eingangsbereich thronte. Die Organistin wartete geduldig, bis sie Pachelbels Kanon in D-Dur zum Auftritt der Braut spielen konnte. Beim Eingang standen bereits zwei Fotografen, um die Szene mit ihren Kameras festzuhalten.

Alle waren bereit. Nur Leonie, die Braut, fehlte.

Zu Beginn hatte Benjamins Trauzeuge Mark noch Witze gerissen und ihn gefragt, was er machen würde, wenn Leonie nicht käme. Inzwischen hing er verzweifelt am Handy und versuchte seit Minuten vergeblich, Leonie und ihre Schwestern zu erreichen.

»Geht niemand ran«, zischte er ihm zu. »Wo sind die nur? Das Fotoshooting sollte längst vorbei sein.«

Benjamin nickte. Leonie hatte sich nach dem Friseurtermin zusammen mit ihrer Mutter und ihren Schwestern im Hotel fotografieren lassen, und um vierzehn Uhr wollten sie in der Kirche sein. Aber da Pünktlichkeit noch nie Leonies Stärke gewesen war, ließ sich Benjamin von der Unruhe der anderen nicht anstecken. Er fühlte sich ohnehin schon wie ein nervöses Wrack; sein Herz schlug von Minute zu Minute schneller, und seine Beine zitterten leicht. Dabei war er sonst nie aufgeregt, im Gegenteil. Seine Mitarbeiter im Hotel betonten stets, er sei die Ruhe in Person.

Er spähte wieder zur Eingangstür, die sich jeden Moment öffnen konnte. Leonie würde in Begleitung ihrer Mutter und Schwestern zum Altar schreiten, da ihr Vater nicht mehr lebte.

Was sie wohl für ein Kleid trägt?

Eigentlich spielte es keine Rolle. Mit ihrem dunkelbraunen Haar, der hellen Haut und den blauen Augen sah sie sowieso aus wie eine Prinzessin. Sein Schneewittchen.

Und er? Der Prinz? Er sah an sich herab: schwarzer Smoking, schwarze Fliege, weißes Hemd, cremefarbene Ansteckrose. Amüsiert dachte er an die Worte des Schneiders, als er damals den Stoff ausgesucht hatte. Der hatte gemeint, das Schwarz würde sein kastanienbraunes Haar und seine dunklen Augen besonders gut zur Geltung bringen. Wahrscheinlich sagte er das zu allen Kunden, unabhängig von deren Haar- und Augenfarbe.

Plötzlich fasste Mark ihn am Arm. »Vielleicht ist etwas passiert! Ein Autounfall!«

»Ach was, sie stecken vermutlich bloß im Verkehr fest. Du weißt ja, wie es an Samstagen in der Stadt ist.«

Mark ließ sich durch die Antwort nicht beruhigen und fuchtelte wild mit den Händen herum. Auf seiner Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. »Aber sie hätten wenigstens mal anrufen können!«

Benjamin schmunzelte. Sollte der Trauzeuge nicht eigentlich Ruhe bewahren? »Sie werden bestimmt bald hier sein.«

Er ließ den Blick über die Menge schweifen; von seinen ehemaligen Studienfreunden bis hin zu Leonies dementem Großvater Oskar, der abwesend ins Leere starrte – alle waren hier. Knapp hundertsechzig Gäste. Kannten sie wirklich so viele Leute?

»Ben!«, rief seine Tante aus der vordersten Bankreihe und erhob sich. In ihrem pinken Etuikleid mit passendem Hütchen auf dem dunkel gefärbten Haar wirkte sie ein wenig verkleidet. »Was ist eigentlich los? Wo ist Leonie?«

Unzählige Augenpaare richteten sich jetzt auf ihn. Er hob bloß die Schultern und zog sein Handy hervor. »Ich rufe im Hotel an. Vielleicht wissen die mehr.«

Als sich auch nach mehrmaligem Klingeln niemand meldete, starrte er verwundert auf das Display, um sich zu vergewissern, dass er die richtige Nummer gewählt hatte. »Eigenartig. Im Hotel geht auch niemand ran.«

»Ben! Mara ruft zurück! Endlich!« Mark zeigte auf sein Handy, als wäre es aus Gold. »Hey Mara, hat Leonie etwa Panik bekommen und – …« Er verstummte plötzlich und hörte zu. Der amüsierte Ausdruck auf seinem Gesicht erstarb und er schloss die Augen.

»Was ist?« Benjamin schaute seinen Freund entgeistert an. In einem solchen Zustand hatte er ihn noch nie erlebt. »Ist etwas passiert? Komm, gib mir das Handy.« Ehe er nach dem Telefon griff, blickte er nochmals zur Kirchentür. Doch er ahnte, dass Leonie nicht mehr kommen würde.

 

 

 

 

Kapitel 2

 

 

Zehn Monate später

 

Los Angeles

Mittwoch, 8. Juni 2016

 

Grace stand bereits fertig umgezogen in der Garderobe und wartete nur noch darauf, dass jemand sie zum Casting abholte. Ihr Herz schlug schneller als üblich und sie führte ein paar Atemübungen durch, die sie noch von der Schauspielschule kannte.

Du schaffst das, Grace! Du willst diese Rolle, und du bekommst sie!

Sie rief sich in Erinnerung, dass dies immerhin schon das dritte und wahrscheinlich letzte Callback war. Noch nie zuvor hatte sie es für eine Hauptrolle in einem Spielfilm so weit geschafft, meistens erhielt sie schon nach dem ersten Vorsprechen eine Absage. Aber diesmal nicht! Allerdings würde dieses Casting kein Kinderspiel werden. Die Konkurrenz war riesig, wie sie von ihrer Agentin erfahren hatte. Nur die ganz großen Starlets waren vertreten, unter anderem die talentierte Oscarpreisträgerin Amber Rutherford. Und natürlich Selina Carver. Der hellblonde Shootingstar mit dem niedlichen Puppengesicht ritt momentan auf einer Erfolgswelle und schnappte sich alle begehrten Rollen. Zu Recht, wie selbst Grace sich eingestehen musste. Selina war eine hervorragende Schauspielerin. Ein Naturtalent, das ursprünglich durch einen Mode- und Make-up-Blog auf YouTube und Instagram bekannt geworden war.

Grace betrachtete sich im Spiegel. Laut Drehbuch sollte sie eine Südstaatenschönheit darstellen, aber in diesem bodenlangen beigefarbenen Baumwollkleid sah sie definitiv nicht so aus. Das wirkte eher wie ein unglücklicher Kartoffelsack. Und ihrem dunkelblonden Haar, das sie zu einer lockeren Hochsteckfrisur trug, fehlte heute jeglicher Glanz. Aber wenigstens passte diese Aufmachung zu der Szene, die sie gleich spielen würde: die berühmte Fluchtszene am Fluss aus Ruf der Freiheit, einem US-Bürgerkriegsdrama, das auf dem autobiographischen Werk von Camille Duncan aus dem Jahr 1865 basierte.

Um sich optimal auf die Rolle vorzubereiten, hatte Grace vorab nicht nur das Drehbuch, sondern auch die Biographie gelesen – die dramatische Geschichte der Autorin. Frisch verheiratet mit einem Plantagenbesitzer verliebte sich Camille kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges in den Sklaven John. Sie befreite ihn und seine kranke Schwester, und eine abenteuerliche Flucht in den Norden begann.

Camilles Erlebnisse gerieten im 20. Jahrhundert zunächst in Vergessenheit, bis das Buch in den Siebzigerjahren von Historikern wiederentdeckt wurde. Starregisseur und Produzent Matthew Parker wagte sich an die lang ersehnte Verfilmung heran. Grace seufzte. Matthew Parker! Eine Rolle in einem seiner Filme war ihr Traum!

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und eine junge Frau mit Headset auf dem Kopf, Klemmbrett unter dem Arm und Handy in der Hand schaute herein. Grace holte tief Luft. Es war so weit.

 

Der Castingraum unterschied sich nicht besonders von den zahlreichen anderen Vorsprechzimmern, die Grace in ihrem Leben schon betreten hatte: große Leinwand, mehrere Kameras, verschiedene Reflektoren, Studioleuchten und natürlich die an einem langen Tisch sitzende Crew. Grace erkannte gleich Matthew Parker, der sich angeregt mit dem Casting Director unterhielt und dabei immer wieder auf einen Notebook-Bildschirm zeigte. Dicht hinter ihm standen zwei ernst blickende Männer und schauten ihm über die Schulter.

Grace bemühte sich um Fassung. Sie war Matthew Parker bisher erst zweimal begegnet, am Geburtstag ihrer Großmutter vor drei Jahren und an deren Beerdigung im vergangenen Dezember. Die beiden waren sehr eng befreundet gewesen. Grace erinnerte sich, dass sie damals auf der Geburtstagsparty versucht hatte, Matthews Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch er hatte ihr keinerlei Beachtung geschenkt. Und ihre Großmutter hatte ihn ihr nicht einmal vorgestellt. Im Nachhinein wunderte sie sich nicht darüber, denn … Verdammt, Grace, denk jetzt nicht an deine Großmutter! Konzentriere dich auf das Casting!

Ehe sie sich versah, stand sie auch schon vorne und blickte in die schwarzen Augen des männlichen Hauptdarstellers Tucker Burns, der ein wenig aussah wie eine junge Version von Morgan Freeman. Grace wusste von ihrer Agentin, dass Tucker Burns die Rolle des John bereits sicher war, es ging jetzt nur noch darum, welche Schauspielerin sich an seiner Seite am besten machte. Grace hatte Tucker noch nie persönlich getroffen, da er recht zurückgezogen lebte und sich nur selten auf Partys sehen ließ.

Nachdem sie einander begrüßt hatten und auf ihr Startzeichen warteten, trat Grace einen Schritt auf ihn zu. »Ich hoffe, ich falle nicht gleich tot um vor Nervosität«, flüsterte sie und lachte.

Tucker jedoch musterte sie ernst. »Du bist die Enkelin von Hanna Miller, oder?«

Grace biss sich auf die Lippen. Wie gerne hätte sie jetzt Nein gesagt. »Äh, ja.«

»Deine Großmutter war eine hervorragende Schauspielerin«, geriet er ins Schwärmen. »Ich liebe ihre Filme! Besonders natürlich Unvollendet.«

Grace grollte innerlich. Immer diese Lobeshymnen! Sie konnte sie nicht mehr hören. Während Tucker weiterhin ihre Großmutter pries, starrte sie zu Boden und fühlte sich immer kleiner und kleiner. Mit Sicherheit wussten alle Leute in diesem Raum, dass die Filmlegende Hanna Miller ihre Großmutter war. Grace verspürte mehr und mehr Druck, und diese Empfindung erreichte ihren Höhepunkt, als ein Scheinwerfer auf sie und Tucker gerichtet wurde. Es konnte losgehen.

In den folgenden Minuten durfte sich Grace von Tuckers überwältigendem Schauspieltalent überzeugen, dem man die Rolle des flüchtenden Sklaven John, der nicht mehr weiter weiß, sofort abnahm. Sogar Tränen schossen ihm in die Augen.

Grace fühlte sich durch seine Leistung so überwältigt, dass sie ihren Einsatz vergaß. Erst als Tucker ein leises »Du bist dran« murmelte, zuckte sie zusammen und trug ihren Text vor. Leider verhaspelte sie sich in der Mitte, ließ sich aber davon nicht durcheinanderbringen und fuhr eisern fort.

Das krönende Ende bildete Tuckers Rede über Frieden und Freiheit, die nicht nur Grace zu Tränen rührte, sondern auch die Assistentin des Casting Directors.

Als Grace die Filmstudios später verließ, verdrängte sie den beunruhigenden Gedanken, neben Tucker Burns komplett versagt zu haben.

 

 

***

 

 

Eine Woche später

 

Mittwoch, 15. Juni 2016

 

Grace ließ sich auf die Couch fallen und zog die Beine eng an ihren Körper heran. Verdammt! So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte heute einfach an nichts anderes mehr denken. Sie hatte die Rolle der Camille nicht bekommen und fragte sich die ganze Zeit nach dem Grund. War es etwa, weil sie sich versprochen hatte? Oder war sie nicht hübsch oder schlank genug?

Am besten ging sie wieder ins Bett, dann musste sie sich nicht mit diesen Fragen herumquälen. Aber zuerst wollte sie etwas essen. Seit sie heute Morgen die schlechte Nachricht von ihrer Agentin erhalten hatte, war sie nicht mehr aus dem Haus gegangen und hatte fast den ganzen Tag geschlafen. Zu tief saß der Frust. Inzwischen verspürte sie großen Hunger.

Schwerfällig erhob sie sich, schlurfte in die Küche und riss den Kühlschrank auf. Karotten, Tomaten und ein saftig-grüner Salat lachten sie an, doch darauf hatte sie jetzt keine Lust. Sie brauchte Fett, viel Fett. Und Kohlenhydrate.

Nachdem sie sich eine Pizza bestellt hatte, setzte sie sich an den Küchentresen und stützte die Ellenbogen darauf. Die Rolle der Camille hätte ihr Durchbruch als Filmschauspielerin werden können! Aber nein, es war ihr wieder mal nicht gelungen, ihrem Traum ein Stück näherzukommen.

Ein Sonnenstrahl fiel durch das Küchenfenster und streifte ihr Gesicht. Abrupt stand sie auf und zog den Rollladen runter. Diese frohe Helligkeit ertrug sie heute nicht.

Sie schaute auf die Uhr. Der Pizzalieferant würde erst in ungefähr zwanzig Minuten kommen, aber sie musste dringend etwas essen, ihr war schon ganz schwindlig. In der hintersten Ecke eines Wandschranks fand sie eine Packung Doppelkekse mit Milchcremefüllung, die nach Meinung ihrer Agentin und ihres Personal Trainers garantiert nicht auf ihren Ernährungsplan gehörten. Genauso wie auch die Pizza nicht. Aber was soll’s, sagte sie sich und biss in einen der Kekse. Sie musste nicht mehr schön und schlank sein, für wen oder was auch? Sie hatte keine Rollen und einen Freund seit Kurzem auch nicht mehr. Ihr Partner Garrett hatte sie vor etwa einem Monat sozusagen verlassen. In ihrem Lieblingsrestaurant hatte er ihr mitgeteilt, dass er aufgrund seines von Arbeit ausgefüllten Lebens momentan keine Zeit für eine Freundin habe und eine Pause benötige. Dabei hatte sie insgeheim erwartet, er würde nach zwei Jahren Beziehung den nächsten Schritt wagen und mit ihr zusammenziehen. Nach wie vor hoffte sie, dass er bald wieder zu ihr zurückkäme.

Kurz erwägte sie, ihn anzurufen, um ihm von der Absage zu erzählen. Sie konnte jetzt ein tröstendes Wort brauchen. Aber Garrett und Trost? Vergiss es, Grace!

Garrett Conway, Inhaber eines Nahrungsmittelkonzerns, tröstete niemanden, und Verständnis für Verlierer hatte er schon gar nicht. Unzählige Male hatte er ihr gepredigt, dass sie sich eben mehr anstrengen müsse, um eine bessere Schauspielerin zu werden. So gut wie ihre Großmutter.

Grace spürte, wie die Wut in ihr brodelte. Wie immer, wenn sie an ihre verstorbene Großmutter dachte. Auch jetzt, sechs Monate nach ihrem Tod, war Grace noch zornig, denn was ihre Großmutter ihr vor drei Jahren angetan hatte, war unverzeihlich.

Erneut wollte sie sich einen Keks aus der Packung nehmen, da klingelte ihr Handy. Es war Kelly, ihre Agentin, die wie gewohnt mit ihrer schrillen Stimme auf sie einsprach: »Grace, Darling, du glaubst nicht, wer mich vorhin angerufen hat! Matthew Parkers Assistentin!«

Graces Herz machte einen Hüpfer, und sie setzte sich. »Matthew Parkers Assistentin?«

»Ja, ja, ja. Hör zu, Darling, Matthew Parker will dich treffen! Bei sich zu Hause.«

Grace fehlten die Worte. Matthew Parker, Hollywoods erfolgreichster Regisseur, Produzent und ehemaliger Filmstar, wollte sie persönlich treffen?

»Du wirst um halb sieben abgeholt«, fügte Kelly hinzu.

»Aber ich verstehe das nicht. Was will er von mir? Du hast mir doch heute Morgen mitgeteilt, dass ich die Rolle der Camille nicht bekomme. Hat er sich etwa umentschieden? Oder geht es um eine andere Rolle?«

»Darling, ich weiß es nicht«, entgegnete Kelly ungeduldig. »Lass dich einfach überraschen. Hey, ich erhalte gerade einen anderen Anruf. Viel Glück heute. Und melde dich bei mir, ja? Bye, bye!«

Graces Hände waren feucht vor Aufregung, als sie das Handy weglegte. Weshalb wollte Matthew Parker sie treffen? Auch wenn er sich betreffend der Rolle der Camille umentschieden hatte und sie engagieren wollte, wäre ein persönliches Treffen nicht nötig. Und weshalb bei ihm zu Hause und nicht in seinem Büro? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwelche unlauteren Absichten dahintersteckten, da dies nicht zu Matthew Parkers Image passte. Ganz Hollywood bewunderte ihn für seine Treue und Bodenständigkeit.

Sie blickte auf die Uhr und erschrak. Schon halb sechs! Sie hatte also noch genau eine Stunde, um sich herauszuputzen. Auf dem Weg ins Badezimmer klingelte es an der Tür. Wer war das denn jetzt?

Da fiel es ihr wieder ein. Aber natürlich! Der Pizzalieferant!

Ihr zuvor noch so starkes Hungergefühl war zwar inzwischen der Nervosität gewichen, aber sie würde trotzdem versuchen, wenigstens ein kleines Stück zu essen – ein knurrender Magen war das Letzte, was sie vor einem Mann wie Matthew Parker brauchen konnte.

 

 

***

 

 

Matthew Parkers Anwesen lag im Nobelviertel Pacific Palisades, nur etwa zehn Fahrminuten entfernt von Graces Apartment in Santa Monica. Als Grace aus dem Wagen stieg, wehte ihr ein warmer, nach Meer und Großstadt riechender Wind entgegen und wirbelte ihr die Locken ins Gesicht. Sie versuchte, die Strähnen zu bändigen, da trat ein Mann mit schlohweißem Haar auf sie zu und begrüßte sie höflich. Während sie ihm ins Haus folgte, sah sie sich um und stellte fest, dass die Villa im Stil einer spanischen Hazienda im Vergleich zu den Prunkbauten, die sie von anderen Stars kannte, eher bescheiden wirkte. Und dennoch versprühte das hellgelb verputzte Haus mit dem angrenzenden Laubengang viel Charme. Zwei mit Rosensträuchern überwachsene Tore führten in einen Garten, wie Grace anhand der Palmen dahinter erkennen konnte.

Die Schlichtheit setzte sich im Innern des Hauses fort: Die Eingangshalle war nur mit wenigen Möbeln im Kolonialstil ausgestattet, ein Wandteppich mit mexikanischen Mustern und ein mit dunklen Holzverzierungen umrandeter Spiegel bildeten den einzigen Wandschmuck. Grace überprüfte rasch ihr Aussehen im Spiegel, richtete die Frisur und zupfte am Ausschnitt ihres Kleides. Sie trug ihr Lieblingsoutfit, das Marilyn-Monroe-Dress, wie sie es nannte: ein weißes Neckholderkleid mit leicht ausgestelltem Rock, um die Schultern einen hellblauen Paschminaschal.

Sie folgte dem Weißhaarigen in einen Salon, wo ihr vor Staunen die Luft wegblieb. Noch nie zuvor hatte sie in einem einzigen Raum so viele Fotos an den Wänden gesehen. Nur an wenigen Stellen konnte man noch die Wand erkennen.

Wortlos zeigte der Weißhaarige auf einen dunkelbraunen Chesterfield-Sessel, ehe er den Raum verließ. Anstatt sich zu setzen, legte Grace ihren Schal über die Lehne und betrachtete die Fotos. Matthew Parker war nicht nur selbst ein Star, er kannte auch sämtliche Filmstars, Musiker, Unternehmer, Politiker und Sportler. Grace entdeckte ein Bild von Matthew mit ihrer Großmutter, das vor etwa zwanzig Jahren aufgenommen worden war. Matthew musste etwa vierzig gewesen sein, ihre Großmutter ungefähr siebzig. Die beiden hatten sich 1965 während der Dreharbeiten zu Billy and the Dog kennengelernt, einen Film über einen kleinen Waisenjungen und dessen Freundschaft mit einem Hund. Der damals erst achtjährige Matthew hatte den kleinen Billy verkörpert und Graces Großmutter dessen Adoptivmutter. Durch diesen Film war Matthew bereits als Kind bekannt geworden; der Beginn seiner großen Karriere im Filmgeschäft.

Grace schaute sich die anderen Bilder an und bemerkte unter den Fotos auch Kinderzeichungen, die von Matthews inzwischen erwachsenen Söhnen stammen mussten. Ihr Blick blieb schließlich an einer Fotografie hängen, die ihre Großmutter während der Oscarverleihung von 1950 zeigte. Damals war sie fünfundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte ihren ersten Oscar für die Hauptrolle in Unvollendet erhalten. Grace lachte freudlos. Sie selbst war jetzt schon neunundzwanzig, aber von einem Oscar noch Lichtjahre entfernt. Sie betrachtete die schöne Hanna Miller. Ihr herzförmiges Gesicht mit den großen grünen Augen, der schmalen Nase, den vollen Lippen und dem Porzellanteint war wie aus edelstem Stein gemeißelt, und das honigblonde, sanft gewellte Haar verlieh ihrer Schönheit etwas Engelhaftes.

»Tja, Grandma, außer den Haaren habe ich wahrhaftig nichts von deinem Aussehen geerbt«, murmelte Grace vor sich hin. Sie fand sich zwar ganz hübsch mit den haselnussbraunen Augen und dem stets leicht gebräunten Teint, aber sie entsprach eher dem Bild eines kalifornischen Beach Girls als dem einer engelsgleichen Hollywood-Göttin. Und die grazile Figur ihrer Großmutter würde sie selbst durch das härteste Sportprogramm und den strengsten Diätplan nie im Leben erreichen. Aber das war auch gut so, denn sie wollte nicht mehr so sein wie ihre Großmutter. Dabei hatte sie als kleines Mädchen nicht nur davon geträumt, einst so auszusehen wie ihre Grandma, sondern auch eine genauso gute Filmschauspielerin zu werden wie sie. Am Anfang hatte es den Anschein gemacht, als würde sich ihr Wunsch erfüllen. Der Einstieg ins Filmgeschäft war ihr durch ihre familiären Beziehungen wesentlich erleichtert worden, und so hatte sie als Kind und Jugendliche zahlreiche Rollen in TV-Serien und Filmen ergattert. Durch die Hauptrolle in der Teenie-Serie Alaska Girl war sie mit fünfzehn Jahren richtig bekannt geworden. Doch schnell hatte sie feststellen müssen, dass es vielmehr Fluch als Segen war, Hanna Millers Enkelin zu sein. Es verging kaum ein Tag, an dem man sie nicht mit ihrer Großmutter verglich. Als sie älter wurde und die Leute merkten, dass sie weder mit demselben Aussehen noch mit dem gleichen Talent wie die Filmlegende Hanna Miller gesegnet war, verlor man allmählich das Interesse an ihr. Dank ihrer Großmutter wurde sie zwar immer noch zu Castings eingeladen, aber sie erhielt immer seltener gute Rollen.

Dennoch hatte sie all die Jahre nie aufgehört, an ihren Traum zu glauben. Auf Anraten ihrer Familie hatte sie nach der Highschool an der UCLA Kunst und Architektur studiert, besuchte danach aber eine Schauspielschule und konzentrierte sich fortan auf die Schauspielerei. Seither wurde sie auch gelegentlich engagiert und erhielt Nebenrollen in TV-Serien, doch die richtig guten Angebote blieben aus. Manchmal fragte sie sich, ob es ohne die berühmte Großmutter im Hintergrund leichter gewesen wäre. Die Leute hätten nicht diese hohen Erwartungen gehabt, und vielleicht wäre es ihr gelungen, sich einen eigenen Namen zu machen. Grace Miller, die Filmschauspielerin. Und nicht, Grace Miller, Enkelin der Filmlegende Hanna Miller.

Aber trotz zahlreicher Niederlagen konnte und wollte sie ihren Traum nicht begraben. Auch wenn abgesehen von ihrem Vater niemand mehr an sie glaubte. Ihre Mutter wollte sie längst verheiratet sehen, und ihre drei älteren Brüder verdrehten stets die Augen, sobald sie das Thema Schauspielerei anschnitt. Deren Meinung nach war sie ohnehin nur das verwöhnte Nesthäkchen. Allein ihr Vater ermutigte sie weiterzumachen und niemals aufzugeben. Er unterstützte sie, indem er ihr einen ziemlich flexiblen Teilzeitjob als Assistentin in seiner Architekturfirma verschafft hatte. Dabei hätte sie eigentlich gar nicht mehr arbeiten müssen, da sie von ihrer Großmutter ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte. Doch nach dem Vorfall vor drei Jahren hatte sie sich geschworen, sich niemals wieder auf ihre Großmutter zu verlassen und nichts mehr von ihr anzunehmen. Das war ihr auch gut gelungen, und als ihre Großmutter im vergangenen Dezember an Lungenkrebs gestorben war, dachte Grace, sie könnte endlich einen Schlussstrich ziehen. Doch leider wurde sie seither umso mehr mit Hanna Miller konfrontiert, da nach deren Tod ein Hype rund um ihre Person und die Filme ausgebrochen war: Ihre Autobiographie stand nach sechs Jahren erneut auf der Bestsellerliste, die alten Filme kamen wieder in die Kinos und die Hollywoodstarlets trugen Haar und Kleidung vermehrt wie einst die junge Hanna. Hanna Miller schien einfach überall zu sein.

Grace betrachtete wieder das Foto. Ich werde immer in deinem Schatten stehen. Vielen Dank, Grandma!

Die Tür ging auf, und Graces Kopf wirbelte herum. Matthew Parker. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er auf sie zukam. »Grace, wie schön, dass du hier bist.« Er sprach sie gleich mit dem Vornamen an und umarmte sie, als seien sie die besten Freunde. Anschließend musterte er sie mit seinen schmalen hellblauen Augen, die ihn so berühmt gemacht hatten. Sie tat es ihm gleich. Mit seinen fast sechzig Jahren sah er noch immer blendend aus: braungebrannt, hohe Wangenknochen, markantes Kinn, dichtes braunes Haar mit grauen Schläfen. In der verwaschenen Jeans und dem schlichten kakifarbenen T-Shirt wirkte er um einiges jünger.

Nach kurzem Small Talk setzte er sich in den Ledersessel hinter seinem Schreibtisch und wies Grace an, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sein Blick ruhte lange auf ihr, bis er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte. »Du siehst Hanna immer ähnlicher, weißt du das?«

Grace unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Sie war diese ständigen Vergleiche so leid! »Meine Großmutter war schöner«, antwortete sie knapp.

»Du hast viel mehr von ihr, als du denkst. Aber man erkennt es erst, wenn man genauer hinsieht. Ihr habt beispielsweise das gleiche Haar, dieselbe Gesichtsform, denselben Mund.«

Grace zählte stumm bis drei. Sie durfte vor Matthew Parker nicht die Beherrschung verlieren. »Mr. Parker, weshalb bin ich hier? Geht es um die Rolle in Ruf der Freiheit? Haben Sie sich umentschieden?«

Er lehnte sich vor und schob ein paar Unterlagen zur Seite. »Lassen wir das ‚Mr. Parker’. Nenn mich einfach Matthew. Und um auf deine Fragen zu antworten: Ich habe mir schon gedacht, dass du das vermutest. Aber ich muss dich leider enttäuschen. Wir haben die Rolle anderweitig besetzt. Selina Carver. Sie passt einfach noch viel besser zu Camille, denn sie sieht aus wie eine Südstaatenprinzessin. Und die Chemie zwischen ihr und Tucker Burns war überwältigend … Tut mir leid. Aber du kennst das Business. In Hollywood geht es ums Geld. Und Selina Carver hat momentan einen richtig hohen Marktwert.«

»Selina Carver. Klar.« Grace versuchte ihre Enttäuschung vor Matthew zu verbergen und setzte ein Lächeln auf. »Wenn Selina die Rolle hat, weshalb bin ich dann hier?«

Mit einem geheimnisvollen Ausdruck in den Augen griff er nach einem dicken Buch und hielt es Grace hin. Das graue Cover zeigte zwei mit Kohlestift gezeichnete Soldaten, die einander die Hände schüttelten. Joachim Arndt. Unvollendet.

»Unvollendet?«, fragte sie verwirrt.

»Ja, Unvollendet«. Matthew pochte leicht auf das Buch. »Ein Meisterwerk.«

Grace nickte langsam und fragte sich, worauf Matthew hinauswollte. Dank der Verfilmung dieses Antikriegsromans war ihre Großmutter berühmt geworden und hatte ihren ersten Oscar erhalten. Grace dachte an den bewegenden Roman des Autors Joachim Arndt über die Freundschaft zweier gegnerischer Soldaten während des Ersten Weltkriegs.

Der deutsche Theologiestudent Leopold und der englische Schuhmacher Edward freunden sich im Dezember 1914 während des Weihnachtsfriedens an der Westfront im belgischen Flandern an. Nach dem Waffenstillstand begegnen sich die beiden in einem Granatentrichter wieder. Edward ist schwer verwundet und wird bald sterben. Zuvor bittet er Leopold verzweifelt um ein Versprechen: Er soll seine große Liebe Marianne finden, die kurz vor Kriegsausbruch England verlassen hatte, um in ihre Heimat Deutschland zurückzukehren. Durch den Krieg brach der Kontakt ab. Edward möchte, dass Leopold Marianne ein Amulett übergibt, das sie ihm beim Abschied als Zeichen ihrer ewigen Liebe geschenkt hatte. Und er will, dass sich Leopold um Marianne kümmert. Angesichts Edwards Verfassung gibt Leopold ihm das Versprechen, weiß aber nicht, ob er es halten kann.

In einem zweiten Erzählstrang erfährt man mehr von Marianne, einer jungen Deutschen, die in England aufwächst und sich in Edward verliebt. Doch kurz vor dem Krieg kehren Marianne und ihr Vater nach Deutschland zurück. Marianne absolviert eine Ausbildung als Krankenschwester und wird in ein Lazarett in Flandern versetzt. Genau wie Edward und Leopold erlebt sie turbulente erste Kriegswochen.

Die fiktive Geschichte endet, als Leopold im März 1915 nach einem Gefecht schwer verletzt liegenbleibt und sich fragt, ob er sein Versprechen gegenüber Edward jemals wird halten können.

Grace betrachtete das Buch versonnen. »Ich fand es immer sehr frustrierend, nicht zu erfahren, ob Leopold überlebt und ob er Marianne findet.«

»Da bist du nicht die Einzige. Leider konnte Joachim Arndt das Buch damals nicht zu Ende schreiben, weil er 1929 überfallen und ermordet wurde. Deshalb blieb es unvollendet. Vielleicht wurde es gerade deshalb zum Erfolg.«

»Soweit ich weiß, trug das Buch zuerst einen anderen Arbeitstitel, oder?«

»Richtig. Freund und Feind. Doch Arndts Frau benannte es nach dem Tod ihres Mannes um in Unvollendet und ließ es 1930 veröffentlichen. Zu Beginn der NS-Herrschaft, also 1933, wurde Unvollendet in Deutschland als schädliches Schrifttum verboten und öffentlich verbrannt. Arndts Frau emigrierte in die Schweiz. In den Staaten aber war das Buch nach wie vor ein großer Erfolg. Und wie du ja weißt, wurde es 1949 verfilmt. Deine Großmutter spielte die weibliche Hauptrolle, gewann einen Oscar und wurde zu einer der erfolgreichsten Filmschauspielerinnen unserer Zeit. Dabei hatte sie nicht mal Schauspielerfahrung. Sie war ein Naturtalent.«

Grace stöhnte innerlich. Jetzt ging das schon wieder los! »Sie musste aber auch einiges dafür opfern. Ihre Ehe scheiterte.«

»Ja, ein Skandal. Ihr Mann ertrug es nicht, dass sie so berühmt war.« Matthew ließ seine Aussage einen Moment in der Luft hängen, ehe er fortfuhr. »Hast du deinen Großvater eigentlich jemals kennengelernt?«

»Nein.« Grace dachte an ihren Großvater, George Miller, einen ehemaligen Airforce-Offizier, Dirigent und Komponisten, der während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz notlanden musste und interniert wurde. Damals lernte er ihre Großmutter kennen. »Dad hatte auch keinen Kontakt mehr zu ihm. Lag vielleicht daran, dass Großvater nach der Scheidung in Lettland lebte. Dad war aber auf seiner Beerdigung.«

»Wann ist er gestorben?«

»Hm, das ist schon ziemlich lange her. Ich war erst etwa zwölf oder dreizehn.«

Matthew überlegte kurz. »Was weißt du eigentlich über die Vergangenheit deiner Großmutter in der Schweiz?«

»Nichts. Sie hat nie darüber gesprochen, nicht mal mit Dad. Er hat immer gesagt, dass sie wegen des tragischen Todes ihrer Eltern nicht über ihre Jugendzeit reden wollte.« Grace wurde allmählich ungeduldig. Worauf wollte Matthew hinaus? Trotziger als beabsichtigt fuhr sie fort. »Aber warum fragst du mich das? Schließlich hast du ihre Autobiographie verfilmt.«

Matthew blickte sie einen Moment lang schweigend an. Ihr Tonfall war ihm offensichtlich nicht entgangen. »Grace, Grace«, seufzte er. »Findest du nicht, du solltest diese alte Geschichte endlich vergessen?«

»Das kann ich nicht.«

»Hanna wollte doch nur, dass …«

»Es ist mir egal, was meine Großmutter wollte. Bitte, Matthew, können wir wieder zum eigentlichen Thema zurückkommen?«, flehte sie, während ihr gleichzeitig bewusst war, dass sie das eigentliche Thema gar nicht kannte. Ging es jetzt um Unvollendet oder um ihre Großmutter? Was bezweckte Matthew nur?

Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. »Als wir Hannas Biographie damals verfilmten, wollte ich mehr über ihre Jugendjahre in der Schweiz wissen. Aber sie weigerte sich, darüber zu sprechen. Ich ließ es auf sich beruhen, denn auch ohne ihre bewegte Jugendzeit war ihr Leben spannend genug und bot viel Material für den Film. Beispielsweise ihr Einbruch in ein Versuchslabor in den Neunzigerjahren zusammen mit Tierschützern, um Affen und Kaninchen freizulassen. Oder ihr Auftritt für die Kampagne Lieber nackt als im Pelz. Man bedenke, dass sie zu dieser Zeit schon fast 70 war! Und dann ihre unzähligen Reisen in Drittweltländer, um sich dort für Menschenrechte einzusetzen. Einmal wurde sie beinahe getötet, als …«

»Ja, ja, ich weiß davon. Meine Großmutter war nicht nur schön und talentiert, sondern auch eine Heldin.« Der Sarkasmus in ihrer Stimme musste unüberhörbar gewesen sein. Matthew sah sie kritisch an, und seine linke Augenbraue war ein klein wenig höher gewandert.

Er räusperte sich und fuhr fort. »Jedenfalls weiß man von ihrer Jugendzeit nicht viel. Sie wuchs in einem Hotel in Zürich auf, dem Grandhotel Schwanenhof. Ihre Eltern kamen 1943 ums Leben, und das Hotel wurde von ihrem Onkel übernommen. 1944 lernte sie George Miller kennen und bekam kurz nach dem Krieg ein Kind von ihm – deinen Vater. Zusammen mit George und ihrem jüngeren Bruder Willi zog sie dann nach Amerika.« Er dachte kurz nach. »Das Grandhotel Schwanenhof gibt’s übrigens immer noch. Ich war vor zwei Jahren anlässlich des Zürcher Filmfestivals dort. Die haben sogar eine Suite, die nach Hanna benannt ist.«

Grace verschränkte die Arme. Es war ihr so was von gleichgültig, ob irgendeine Suite in einem Schweizer Hotel nach ihrer Großmutter benannt worden war. Warum kam Matthew nicht endlich auf den Punkt? Sie hatte keine Lust, sich mit ihm über ihre Großmutter zu unterhalten. Doch das durfte sie sich nicht anmerken lassen, schließlich bekam man nicht alle Tage die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch mit Matthew Parker. Also reiß dich gefälligst zusammen!

»Matthew, worauf willst du eigentlich hinaus?«, fragte sie vorsichtig.

»Ich wollte mich schon viel früher damit befassen, aber ich kam wegen meiner anderen Projekte nicht dazu.« Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf dessen Kante. Er neigte sich leicht vor. »Deine Großmutter hatte irgendein Geheimnis, das im Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit in der Schweiz stand.«

»Ein Geheimnis? Wie kommst du darauf?«

»Ein eigenartiger Vorfall mit ihr geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Erinnerst du dich noch an ihren Schwächeanfall vor bald einem Jahr, im August?«

»Ja.«

»Ich habe mit ihr zusammen Mittag gegessen«, erklärte Matthew. »Ich musste kurz auf die Toilette, und als ich zurückkam, lag sie ohnmächtig auf dem Boden, umringt von aufgeregten Kellnern.«

»Die Ärzte sagten, dass es an den Nebenwirkungen der Chemotherapie lag. Sie hat ja danach mit der Chemo aufgehört.«

»Was ich übrigens nicht verstehen konnte. Ich wollte, dass sie weiterkämpft.«

»Sie war neunzig und hat die Chemotherapie nicht vertragen. Und sie war der Meinung, in ihrem Alter würde sich das nicht mehr lohnen. Du hast einen eigenartigen Vorfall erwähnt?«

»Ja, es war danach, im Krankenhaus. Hanna war vollkommen durcheinander und redete wirres Zeug. Darüber, dass die Vergangenheit einen immer irgendwann einhole und es jetzt an der Zeit sei für die Wahrheit. Ich dachte, sie sei verrückt geworden. Ich wollte bereits eine Krankenschwester rufen, aber Hanna hielt mich zurück und meinte, sie müsse mir unbedingt ein Geheimnis anvertrauen. Es ginge um Robert Arndt und Unvollendet

»Robert Arndt?«

»Ja, der Sohn von Joachim Arndt. Deine Großmutter hat Robert gekannt. Er lebte damals mit seiner Mutter in Zürich.« Matthew drehte den Kopf zur Tür, als wolle er sich vergewissern, dass diese auch wirklich zu war. Dann fuhr er leise fort. »Hanna vertraute mir an, Robert habe eine Fortsetzung von Unvollendet geschrieben.«

»Eine Fortsetzung von Unvollendet?«, wiederholte Grace. »Das glaube ich nicht.«

Matthew lachte kehlig, und um seine Augen bildeten sich kleine Fächer aus Fältchen. »Genau das habe ich damals auch entgegnet. Aber Hanna hat beteuert, dass sie die Fortsetzung selbst gelesen habe und das Manuskript in der Schweiz sei.«

»In der Schweiz«, wiederholte Grace und spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern pulsierte. »Ein zweiter Teil von Unvollendet! Ich kann es kaum fassen. Wie ging die Geschichte weiter? Was ist mit Marianne und Leopold geschehen?«

»Das wollte ich natürlich auch gleich wissen. Hanna zufolge überlebte Leopold die schwere Schlacht und traf im Lazarett auf Marianne. Doch das war nicht alles, sonst hätte Robert ja kaum ein ganzes Buch geschrieben. Laut Hanna ist noch einiges passiert, aber als sie weitererzählen wollte, erschien eine Krankenschwester, um sie für Untersuchungen abzuholen. Hanna versprach mir, zu einem späteren Zeitpunkt alles zu erklären, es sei eine lange Geschichte und beträfe nicht nur den Roman. Die kommenden drei Wochen war ich für Dreharbeiten in Kanada. Als ich Hanna danach wiedersah und auf Robert Arndt und Unvollendet ansprach, blockte sie ab und tat so, als sei sie damals nicht bei klarem Verstand gewesen. Es müsse an den Medikamenten gelegen haben, versuchte sie ihr Verhalten zu erklären.« Er lachte kurz. »Deine Großmutter war zwar eine hervorragende Schauspielerin, aber diese Aussage nahm ich ihr nicht ab.«

»Eigenartig. Warum wollte sie plötzlich nicht mehr darüber sprechen?«

»Das wüsste ich auch gerne.«

Grace ließ all die Informationen eine Weile auf sich wirken. »Grandma kannte also den Sohn von Joachim Arndt, der einen zweiten Teil von Unvollendet geschrieben hatte. Und die Fortsetzung soll angeblich in der Schweiz sein. Aber wo? Etwa im Grandhotel Schwanenhof? Und was meinte sie damit, die Vergangenheit würde einen immer irgendwann einholen und es sei Zeit für die Wahrheit?«

Matthew legte die Hände auf ihre Schultern. »Warum hilfst du mir nicht dabei, es herauszufinden?«

Sie stutzte und besah ihn misstrauisch. »Wieso sollte ich Grandmas Geheimnis lüften? Damit du es in einer weiteren Biographie-Verfilmung über sie verwenden kannst?«

Er wirkte aufrichtig schockiert. »Nein! Grace, deine Großmutter hat mir viel bedeutet und zählte zu meinen besten Freunden. Natürlich interessiert mich ihre Vergangenheit, aber nicht, um daraus einen Film zu machen. Das wollte Hanna nicht, und das dürfte ich auch nicht. Aber ich will ganz ehrlich sein: Wenn tatsächlich irgendwo ein zweiter Teil von Unvollendet existiert, dann würde ich ihn natürlich verfilmen wollen, allerdings unabhängig von Hannas Vergangenheit. Urheberrechtlich ist das kein Problem. Robert Arndt starb 1944. Die Regelschutzfrist von siebzig Jahren ist also längst abgelaufen und das Werk somit gemeinfrei. Und gemäß unseren Nachforschungen hat er keine Erben.«

»Das ist ja schön und gut, aber weshalb fragst du ausgerechnet mich, ob ich dir helfe? Du hast doch ein ganzes Team voller Recherchespezialisten.«

»Ja, aber ich will deine Hilfe. Sollten wir die Fortsetzung finden, möchte ich nämlich, dass du die Rolle der Marianne spielst.«

Grace glaubte sich verhört zu haben. Hatte Matthew ihr soeben ernsthaft eine Rolle angeboten?

»Ich soll die Marianne spielen?« Sie spürte, wie sich ein wohliges Kribbeln in ihrem Körper ausbreitete. Die Rolle der Marianne in der Fortsetzung von Unvollendet! Ein Traum!

»Ja«, antwortete Matthew. »Ich glaube, wenn du dich intensiv damit befasst, wird es dir gelingen, die Rolle am Ende authentisch darzustellen.«

Grace erkannte einen Anflug von Wahnsinn in Matthews Augen. Aber er war ein Künstler, und er hatte ein Gespür für gute Filmprojekte. Noch keinen einzigen Misserfolg hatte er in seiner Laufbahn zu vermelden. Alles, was er anfasste, wurde zu Gold. Eine Rolle in einem seiner Filme könnte endlich ihr Durchbruch werden. Mit Ruf der Freiheit hatte es nicht geklappt, aber vielleicht mit dem zweiten Teil von Unvollendet. Doch ausgerechnet Unvollendet hatte ihre Großmutter berühmt gemacht. Schon jetzt ahnte sie, dass die Kritiker sie in der Luft zerreißen würden: Nicht so schön, nicht so talentiert, nicht so elegant wie Hanna Miller.

»Die Rolle wäre mein Traum«, flüsterte sie. »Aber …« Sie verschränkte ihre Arme eng vor der Brust, als wolle sie sich vor etwas schützen. »Warum willst du plötzlich mich? Ich bin nicht so talentiert wie meine Großmutter. Und das weißt du selbst. Sonst hättest du mich schon für die Rolle der Camille gewählt. Dafür war ich nicht gut genug!« Sie erschrak. So vor Matthew aufzutreten war nicht ihre Absicht gewesen. Doch er hatte einen wunden Punkt getroffen, und sie hatte sich nicht mehr zurückhalten können. Betreten senkte sie den Kopf.

»Grace«, sprach er mit seiner ruhigen und tiefen Stimme. »Ich kann dich verstehen. Der ständige Vergleich mit Hanna ist nicht leicht für dich. Und ich kann auch deine Bedenken nachvollziehen. Aber glaube mir, es ist nicht so, wie du denkst. Ich halte dich für eine gute Schauspielerin. Ich habe mir die Aufnahme von deinem Castingauftritt nochmals angesehen. Du warst gut, trotz deines kurzen Verhaspelns. Aber die Rolle der Camille war einfach nicht auf dich zugeschnitten. Du hast viel zu wenig Emotionen ausgelöst. Selina Carver hingegen war …« Er stockte und verschluckte den Rest des Satzes. »Egal. Grace, ich bin überzeugt davon, dass in dir eine gute Schauspielerin steckt. Aber du gehörst zu denen, die sich erst richtig mit einer Rolle identifizieren müssen.«

»Aber ich werde die Rolle der Marianne niemals so gut spielen können, wie Grandma es damals getan hat.«

Matthew ignorierte ihre Bemerkung. »Sie hat immer viel über dich gesprochen, wusstest du das?«

»Nein«, antwortete sie verblüfft. Sie hatte stets angenommen, ihre Großmutter würde sich für sie, die erfolglose Enkelin, schämen.

»Ich glaube, sie bedauerte, dass ihr keine bessere Beziehung zueinander hattet«, meinte er.

Bessere Beziehung? Grace spürte plötzlich wieder diese Wut, und auch wenn vor ihr der erfolgreichste Regisseur und Filmproduzent Hollywoods saß, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. »Kein Wunder, dass wir keine bessere Beziehung hatten. Sie hat nie an mich geglaubt! In ihren Augen war ich eine schlechte Schauspielerin, das hat sie mir vor drei Jahren selbst gesagt. Ich solle besser als Architektin arbeiten. Dabei wollte ich nur eine Chance haben!«

Matthew sah aus, als wolle er etwas einwenden, fände jedoch die richtigen Worte nicht. Doch Grace hätte ihn so oder so nicht aussprechen lassen, da ihre angestauten Emotionen gerade nur so aus ihr heraussprudelten wie Lava aus einem Vulkan. »Die Verfilmung der Biographie der berühmten Hanna Miller!«, bemerkte sie gehässig. »Die Rolle wäre für mich, die Enkelin, wie gemacht gewesen. Doch Grandma entschied sich für Amber Rutherford!« Sie schüttelte den Kopf, als könne sie es noch immer kaum glauben.

Matthew blieb gelassen. »Sie wollte nicht, dass du die Rolle übernimmst, weil sie genau wusste, wie sehr du es immer gehasst hast, in ihrem Schatten zu stehen. Sie befürchtete, die Rolle würde dir nur schaden.«

»Ach was! Sie hat nicht an mich geglaubt, das war der Grund! Sie hatte Angst, ich würde sie blamieren und schämte sich für mich.«

»Nein, das stimmt nicht. Sie …«

Grace schaltete auf taub. Zu oft hatte sie sich dieselben Worte schon von ihrem Vater anhören müssen, der immer versucht hatte, seine Tochter und seine Mutter miteinander zu versöhnen.

»Grace!«, rief Matthew streng. »Es geht hier nicht um alte Geschichten, verstanden? Es geht um die mögliche Verfilmung des zweiten Teils von Unvollendet. Und um deine Rolle darin! Eine Rolle, die dein Durchbruch werden könnte.«

Als sie nichts erwiderte, richtete er sich auf und ging um den Schreibtisch herum zu einem gläsernen Getränkewagen. »Willst du auch einen Brandy?«

Sie nickte und beobachtete ihn, wie er eine Kristallkaraffe öffnete und zwei Gläser füllte. Er kam auf sie zu und reichte ihr eines.

»Danke.« Sie sog das würzige Aroma ein und nahm einen tiefen Schluck. Die Flüssigkeit brannte in ihrer Kehle und füllte ihren Körper mit Kraft und Mut. Matthew hatte recht. Diese Rolle könnte ihr lang ersehnter Durchbruch werden. Natürlich stünde sie im Schatten ihrer Großmutter, diese hatte für ihre Leistung immerhin einen Oscar erhalten. Doch die Protagonistin im Film war die Romanfigur Marianne und nicht Hanna Miller. Sie hatte also die Chance, sich selbst in die Rolle einzubringen. Aber noch gab es diese Rolle gar nicht, da kein Drehbuch existierte. Für das Drehbuch brauchten sie zuerst das Manuskript dieses angeblichen zweiten Teils von Unvollendet, von dem ihre Großmutter gewusst hatte. Nur graute es Grace davor, sich mit dem Leben ihrer Großmutter zu befassen, um das Manuskript zu finden. Doch für ihre Filmkarriere musste sie dieses Opfer wohl oder übel in Kauf nehmen und über ihren Schatten springen.

Sie holte tief Luft und sah Matthew direkt ins Gesicht. »Ich werde dir helfen. Ich versuche, die Fortsetzung von Unvollendet zu finden und gleichzeitig das Geheimnis von Grandma und Robert Arndt zu lösen.«

»Das freut mich.« Matthew wirkte nicht besonders erstaunt, vielmehr so, als hätte er nichts anderes erwartet. »Du erhältst natürlich einen Vertrag mit der Zusicherung, dass du die Rolle der Marianne bekommst. Und für deine Recherchen hast du meine volle Unterstützung, auch finanziell.«

»So teuer sollte das ja nicht werden.«

»Täusch dich nicht. Du wirst in die Schweiz reisen müssen. Und die ist teuer. Du hast doch momentan keine Dreharbeiten, oder?«

Grace lachte auf. Dreharbeiten! Schön wär’s. »Nein, aber ich arbeite bei meinem Vater im Büro.«

»Kann man dort eine Weile auf dich verzichten?«

»Ich denke schon, ich werde mit Dad reden. Wann soll ich abreisen?«

»So bald wie möglich, aber zuerst müssen wir alles vorbereiten, und du solltest hier vor Ort noch ein wenig recherchieren.«

»In Ordnung.« Sie dachte nach. »Was weiß man eigentlich über Robert Arndt?«

»Nicht viel, deshalb ließ ich Nachforschungen anstellen. Es ist ein Vorteil, als Filmemacher die richtigen Leute zu kennen, die wiederum Leute kennen, die gut vernetzt sind und Zugang zu verlässlichen Quellen haben. Und das Thema Zweiter Weltkrieg ist ja kein Neuland für mich und mein Team. Jedenfalls habe ich erfahren, dass Robert Arndt 1919 in der Nähe von München zur Welt kam. 1933 emigrierten er und seine Mutter nach Zürich. Er durfte die Schule besuchen und begann sogar ein Jurastudium. Doch 1940 verließ er die Schweiz und reiste nach Berlin, illegal versteht sich. Als Emigrant ging er so das Risiko ein, seine Schweizer Aufenthaltsbewilligung zu verlieren. In Berlin schloss er sich einer Widerstandsgruppe an. In der waren auch seine Freundin Gerda Ritter und deren Vater Heinz Ritter, ein Jurist und ehemaliger SPD-Politiker. Sie verfassten unter anderem antifaschistische Flugblätter und retteten gefährdete Personen, indem sie sie versteckten, ihnen falsche Papiere besorgten und zur Flucht verhalfen. Robert Arndts Hauptaufgabe im Untergrund war die Fälschung von Pässen jeglicher Art: normale wie auch Wehrpässe, Postausweise, Kennkarten, aber auch verschiedene Bescheinigungen. Auch sich selbst verschaffte er eine neue Identität. Nach dem 20. Juli 1944 kam es durch das versuchte Attentat auf Hitler von Graf von Stauffenberg zu Verhaftungswellen der Gestapo im ganzen Land. Gerda Ritter floh daraufhin in die Schweiz. Sie war schwanger.«

»Schwanger? War das Kind von Robert Arndt?«

»Ich gehe davon aus. Aber man weiß es nicht. Jedenfalls erlitt Gerda eine Frühgeburt. Sie und das Baby starben in einem Zürcher Krankenhaus im August 1944.«

»War Robert dabei?«

»Ich denke nicht. Wäre ihm die Flucht zurück in die Schweiz gelungen, weshalb hätte er sie dann wieder verlassen sollen? Fakt ist, dass Gerdas Vater, Heinz Ritter, am 22. August 1944 im Rahmen der Aktion Gitter, einer Massenverhaftungsaktion der Gestapo, festgenommen wurde. Seine Widerstandsgruppe flog kurze Zeit später auch auf, und bis auf einen Aktivisten, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebte, kamen alle um. Sie wurden gleich zum Tode verurteilt oder starben später im KZ. Heinz Ritter selbst erlitt einen Tag nach der Befreiung des KZ Buchenwalds, am 12. April 1945, einen plötzlichen Herztod, wie aus den Unterlagen hervorgeht.«

»Und Robert Arndt?«

»Er wurde im September 1944 verhaftet, allerdings unter seinem Decknamen Rolf Dörr. Doch die Nazis fanden seine wahre Identität heraus. Er wurde Ende September erhängt.«

Grace fehlten die Worte. Obwohl sie gerade erst von Robert Arndt erfahren hatte, ging ihr sein Schicksal nahe. »Aber er wurde wegen seiner Widerstandstätigkeit hingerichtet und nicht, weil er den zweiten Teil eines Antikriegsromans schrieb, oder?«

»In den Informationen, die ich über Arndt erhalten habe, war nie die Rede von einem Roman. Aus der Anklageschrift geht hervor, dass er wegen Widerstandsaktivitäten wie beispielsweise Passfälschung zum Tode verurteilt wurde. Hätte die Gestapo das Manuskript gefunden, wäre es garantiert erwähnt worden, da es sich um ein Beweismittel gehandelt hätte, das Arndt zusätzlich überführte. Außerdem denke ich nicht, dass er das Manuskript in Deutschland schrieb. Immerhin behauptete Hanna nicht nur, dass die Fortsetzung in der Schweiz sei, sondern auch, dass sie sie gelesen habe. Und da Arndt zuletzt 1940 in der Schweiz war, muss er es vor dieser Zeit geschrieben haben.«

»Warum hat er es in der Schweiz gelassen und nahm es nicht mit?«

Matthew schaute sie an, als hätte sie soeben gefragt, weshalb ein Auto Räder besitzt. »Ergibt es deiner Meinung nach Sinn, ein solches Manuskript in die Gefahrenzone mitzunehmen? Stell dir vor, die Gestapo hätte ihn auf seiner Reise aus irgendeinem Grund einer Durchsuchung unterzogen und das Manuskript gefunden. Natürlich kennen wir den Inhalt der Fortsetzung nicht, aber ich gehe davon aus, dass sie genauso pazifistisch ist wie Unvollendet und somit ein großes Risiko darstellte.«

Grace starrte konzentriert auf die honigfarbene Flüssigkeit in ihrem Brandyglas. »Was ist mit dem überlebenden Mitglied der Widerstandsgruppe? Vielleicht erwähnte Robert Arndt ihm gegenüber eine Fortsetzung?«

»Frederick Lümmel starb schon vor ein paar Jahren. Wir haben seine Frau kontaktiert, doch die wollte sich zum Thema Zweiter Weltkrieg nicht äußern, da ihr Mann noch bis ins hohe Alter unter den Folgen seiner Inhaftierung litt. Physisch, aber auch psychisch.«

Grace blickte zu Boden und fixierte ihre rot lackierten Fußnägel, die zwischen den goldfarbenen Riemchen ihrer Sandaletten hervorblitzten. Inhaftierung, Widerstandskämpfer, Gestapo, Konzentrationslager, Hinrichtungen. Ihr lief es kalt den Rücken hinunter, und sie schaute schnell wieder zu Matthew. »Und meine Großmutter sagte nach dem Vorfall im Krankenhaus kein Wort mehr über Unvollendet und Robert Arndt?«

»Ja. Sie blockte ab, als ich das Thema ansprach.«

Fest entschlossen sah Grace ihn an. »Ich werde mit meinem Vater reden. Vielleicht weiß er etwas.«

»Gut. Und du solltest auch mit Hannas Bruder Willi sprechen.«

»Mit Willi?« Grace schauderte. Ihr Großonkel Willi war keine Person, mit der man sich gerne traf. Nicht mal ihr Vater hatte noch Kontakt zu ihm. Zuletzt hatten sie ihn bei der Beerdigung ihrer Großmutter im Dezember gesehen. Die beiden hatten in Hannas letzten acht Jahren zusammengelebt, da sie partnerlos waren und sich so nicht allzu alleine fühlten.

Mit dem mürrischen Willi zu sprechen war das Letzte, was Grace wollte. Aber sie sah ein, dass sie um ein Gespräch mit ihm nicht herumkam. Das Problem war nur, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte und Willi sie auch nicht ausstehen konnte. Ob er überhaupt mit ihr reden würde?

 

 

***

 

 

Als Grace spätabends nach Hause kam, konnte sie an nichts anderes mehr denken als an Unvollendet. So sehr sie es auch hasste, die ganze Zeit mit dem unglaublichen schauspielerischen Talent ihrer Großmutter konfrontiert zu werden, so sehr liebte sie gerade diesen Film. Ihre Großmutter hatte die Rolle der Marianne sehr gefühlvoll und echt verkörpert, und jedes Mal, wenn Grace sich Unvollendet ansah, hatte sie das Gefühl, ihre Großmutter selbst wäre Marianne. Vielleicht, weil sie auch Schlimmes erlebt hatte, nur in einem anderen Krieg.

Sie schob die DVD in den Player und befand sich schon bald im schicksalhaften Jahr 1914.

Noch ahnten die drei Protagonisten Leopold, Edward und Marianne nicht, dass ihr Leben schon bald vom Krieg bestimmt sein würde. Die siebzehnjährige, aus Deutschland stammende Marianne lebte mit ihrem Vater in London. Sie verliebte sich in den englischen Schuhmacher Edward, allerdings sehr zum Missfallen ihres Vaters, der sich eine bessere Partie für sein einziges Kind gewünscht hatte. So kam es Mariannes Vater gerade recht, aus politischen Gründen in seine Heimat Deutschland zurückkehren zu wollen, zusammen mit Marianne.

Beim Abschied versprach Marianne Edward, dass sie zu ihm zurückkommen würde, sobald sie volljährig war. Als Zeichen ihrer ewigen Liebe übergab sie ihm ein Amulett, das sie vor vielen Jahren von ihrer inzwischen verstorbenen Mutter erhalten hatte.

Es folgten schwere Wochen, nicht nur für Marianne und Edward – die beide unter Liebeskummer litten –, sondern auch für das Weltgeschehen. Nach einem tödlichen Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo gerieten die mächtigsten Staaten Europas in eine Beziehungskrise, die am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien eine dramatische Wendung nahm. Bereits ab August 1914 befanden sich Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg gegen die verbündeten Entente-Staaten Frankreich, Großbritannien und Russland.

Der Theologiestudent Leopold erlebte den Kriegsausbruch in Deutschland als Jubelfeier. Nach anfänglichen Zweifeln lief er mit seinen Freunden johlend durch die Straßen und konnte es kaum erwarten, eingezogen und an die Front geschickt zu werden.

Auch Mariannes Vater war angesteckt von dieser Euphorie und versuchte seine besorgte Tochter zu beruhigen. Weihnachten sei alles vorbei, betonte er, doch Marianne blieb skeptisch. Eine Nahaufnahme zeigte ihr angstvolles Gesicht mit den großen grünen Augen. Ihr Blick sagte auch ohne Worte alles: Sie ahnte, dass der Krieg länger dauern würde.

Irgendwann schlief Grace ein und wurde von Bombendonner geweckt. Sie blinzelte zum Fernsehgerät und sah Edward, zwischen den Schützengräben rennend, im sogenannten Niemandsland. In dieser Szene erfuhr er gerade zum ersten Mal die wahre Bedeutung des Krieges. Im Wechsel wurde auch der deutsche Leopold gezeigt, den Edward zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Ihm erging es wie Edward, und er konnte kaum glauben, dass seine Welt zu einer solchen Hölle geworden war. Marianne absolvierte zu der Zeit eine Ausbildung als Krankenschwester.

Grace schaltete den Fernseher aus und schlief ziemlich schnell wieder ein. Sie träumte von Unvollendet, ihrer Großmutter und einem Treffen mit ihrem Großonkel Willi in einem Schützengraben.