Leseprobe "Das Geheimnis der Muschelrprinzessin"

Kapitel 1

 

Bretagne

Freitag, 10. Juli 2015

Philippe keuchte und hustete. Ein Regentropfen rann ihm über die Wange, und er blickte hoch in den von dunklen Wolken verhangenen Himmel. Schon bald würde das Unwetter in all seiner Stärke über den Strand ziehen. Er hustete wieder und erinnerte sich an die Weisung des Arztes, jegliche Anstrengung zu meiden. Aber zum Teufel mit dem Arzt! Energisch setzte er seinen Gehstock in den Sand und ging weiter, kam an einem durch die Ebbe freigelegten Felsenmeer vorbei und grüßte ein paar Gezeitenfischer, die in Gummistiefeln und Regenjacken eifrig nach Krebsen und Muscheln suchten. Auch er war auf der Suche. Würde er die goldene Muschel heute finden? Obwohl ihn alle für verrückt hielten, gab er die Hoffnung nicht auf. Niemals. Seine Muschelprinzessin hatte er für immer verloren, fände er aber die goldene Muschel, könnte er abschließen und in Frieden ruhen.

Philippe blieb stehen. Genau hier an diesem Strandabschnitt, vor 52 Jahren, hatte er seine Muschelprinzessin zum ersten Mal gesehen. Wo sie jetzt wohl war? Denk nicht an sie! Konzentriere dich lieber auf die Muschel! Aber zuerst musste er etwas essen, er fühlte sich schwach. Er zog einen Apfel aus der Jackentasche und jonglierte damit. Eine Angewohnheit, die er wohl nie mehr loswerden würde, dachte er schmunzelnd.

Er nahm einen großen Bissen und beobachtete eine Schwimmkrabbe, die sich blitzschnell ein Loch buddelte und darin verschwand. Und dort! Ein Krebs! Er schaute ihm nach, bis er ihn nur noch verschwommen sah. Da spürte er einen heftigen Druck auf seiner Brust, als läge ein Stein darauf, der immer schwerer wurde und ihn zu erdrücken schien. Er ließ den Apfel fallen, sank in den feuchten Sand. Bevor er bewusstlos wurde, galt sein Gedanke ihr. Seiner Muschelprinzessin.

 

 

 

Kapitel 2

 

Zürich

Samstag, 11. Juli 2015

Nie hätte Nora gedacht, dass er so viel Kraft besäße. Schließlich war er dünn wie eine Bohnenstange und mindestens einen Kopf kleiner als sie. Aber er packte sie mit einer solchen Grobheit am Arm und zerrte sie mit einer Wucht nach draußen, dass sie vor Schmerzen aufschrie. Vor der Tür gab er ihr einen kräftigen Stoß. „Verschwinde, du verdammte Schlampe!“

Nora schlug hart mit dem rechten Knie auf dem Asphalt auf. Langsam hob sie den Kopf und blickte zu ihrem Boss. Sein kahl geschorener Kopf glänzte im Lichte der Sonne. „Du kannst froh sein, wenn wir dich nicht verklagen“, brüllte er. „Und jetzt hau endlich ab!“

Nora griff nach ihrer Handtasche und stand vorsichtig auf. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr verletztes Knie. Sie wischte das Blut weg, zog ihre hochhackigen Sandaletten aus und humpelte davon. Mit ihrem kurzen schwarzen Rock und dem roten Glitzertop hob sie sich glücklicherweise nicht allzu sehr von den anderen weiblichen Passanten ab, die an diesem warmen Juliabend in dem beliebten Partyviertel unterwegs waren. Auch die Tatsache, dass sie mit blutendem Knie durch die Gegend humpelte, schien niemanden zu interessieren. Bloß ein paar vorbeitorkelnde Männer riefen ihr obszöne Wörter zu. Nora ignorierte sie und ging weiter, bis ihr Blick auf einen Pizzastand fiel, vor dem sich eine lange Schlange gebildet hatte. Der verlockende Duft nach Tomaten und Käse erinnerte sie daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte. Sie seufzte. Den Luxus einer Pizza konnte sie sich nicht leisten. Was jetzt? Sie hatte nichts mehr. Keinen Job, keine eigene Wohnung, kein Geld, keine Familie. Nichts. Ihr Vater hatte recht. Sie war eine Versagerin und hatte ihr Leben nicht im Griff.

Schrilles Gelächter riss sie aus ihren Gedanken, und sie drehte sich abrupt um. Drei pubertierende Mädchen versuchten, ein Selfie zu schießen, und dabei war es ihnen besonders wichtig, dass man ihre T-Shirts auf dem Foto sehen konnte. Immerhin war der zurzeit angesagteste Popsänger der Welt darauf abgebildet: Berry Lee Thompson. Nora schmunzelte. Früher war sie auch so gewesen, hatte Konzerte besucht und ... Sie stutzte. Konzerte! Wie in Trance drehte sie sich um. Da stand sie, die imposante Konzerthalle mit der anthrazitfarbenen Glasfassade. Nur wenige Meter von ihr entfernt. Noras Herz schlug immer schneller, und sie spürte, wie der Schweiß aus ihren Poren drang. Wie hatte sie nur hierher gelangen können, wo sie diesen Platz schon seit Jahren mied? Um sie herum drehte sich alles, und dann wurde es schwarz.

 

„Ah! Was ist ...“ Ruckartig hob Nora den Kopf und rieb sich die Lider. Wasser! Jemand hatte ihr tatsächlich Wasser ins Gesicht gespritzt. „Was soll das?“, rief sie und schaute verwirrt in die von zahlreichen Fältchen umgebenen hellblauen Augen einer Frau.

„Sie erlitten einen Kreislaufkollaps, meine Liebe. Wir wollten soeben die Ambulanz rufen.“

Nora dachte an die Arztkosten, setzte sich schnell auf und schüttelte den Kopf. „Nein, keine Ambulanz. Mir geht es schon besser. Ich war nur geschwächt wegen der Hitze.“

„Und was ist mit Ihrem Knie?“

„Ist bloß eine Schürfung, nicht schlimm. Und die Blutung hat bereits aufgehört. Tut auch gar nicht weh.“

Die Dame beäugte Nora misstrauisch und schien ihr diese Aussage nicht so recht abzunehmen. Aber sie schwieg und reichte ihr eine Wasserflasche. „Hier, trinken Sie.“ Den herumstehenden Passanten erklärte sie, dass es der jungen Frau gut gehe, woraufhin sie zögernd weiterzogen.

Nora nahm die Flasche dankend entgegen und trank sie in einem Zug leer. Sie musterte die Frau mit dem hellblonden Haar aufmerksam. Obwohl sie durch die Jeans, Turnschuhe und den blauen Rucksack einen legeren Eindruck machte, verrieten die cremefarbene Seidenbluse, die Perlohrringe und nicht zuletzt ihre gehobene Ausdrucksweise, dass sie wohlhabend sein musste. Und nur schon aufgrund ihres Alters, Nora schätzte sie auf sechzig, passte sie nicht in diese Gegend.

Als könnte sie Noras Gedanken lesen, wies die Dame auf die Konzerthalle. „Ich besuche mit meiner Enkelin das Konzert und habe uns noch etwas zu essen geholt. Dies sollen angeblich die besten Pizzen der Stadt sein.“ Sie zeigte auf die Pizzaschachtel neben sich, und Noras Magen fing unmittelbar an zu knurren.

„Wissen Sie“, fuhr die Dame fort, „das Konzert interessiert mich ehrlich gesagt nicht, aber meine Enkelin bestand darauf, dass ich sie begleite.“

Nora sah sich um. „Und wo ist Ihre Enkelin?“

„Sie hat so eine Art Pass erhalten und darf den Sänger vor dem Konzert treffen.“

„Einen Backstage-Pass?“

„Genau! So heißt das Ding! Ich kann mir diese ganzen englischen Ausdrücke nie merken ... Ach, ich bin übrigens Estelle. Und Sie sind?“

„Nora.“

„Nora. Also, Nora, Sie haben bestimmt Hunger?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie unbekümmert weiter und zeigte auf eine Bank unter einem Kastanienbaum. „Kommen Sie, wir setzen uns dort drüben in den Schatten, essen Pizza, und dann erzählen Sie in aller Ruhe, weshalb Sie verletzt sind und einen Kreislaufkollaps hatten.“ Sie hob spielerisch mahnend den Zeigefinger. „Und geben Sie nicht wieder der Hitze die Schuld. Das nehme ich Ihnen nicht ab.“

 

Nora genoss jeden Bissen der mit Schinken und Rucola belegten Pizza und musste sich beherrschen, die Stücke nicht gierig zu verschlingen. Estelle, die selbst nichts aß, schaute ihr belustigt zu und erzählte von ihrer Enkelin. „Louisa ist 19 und besucht andauernd irgendeine Party oder ein Konzert ... Und Sie? Gehen Sie auch gerne an Konzerte?“

„Nein“, entfuhr es Nora blitzschnell.

„Oh, warum nicht?“

Nora schloss kurz die Augen. Sie wollte nicht darüber reden. „Zu viele Leute“, sagte sie nur, und Estelle gab sich mit der Antwort zufrieden.

„Wie alt sind Sie eigentlich?“, fragte Estelle nach einer Weile.

Nora schluckte den letzten Bissen der Pizza runter. „Ich werde nächsten Monat 27.“ Sie warf Estelle einen Seitenblick zu. „Sie denken bestimmt, in diesem Alter sollte man nicht mehr in kurzem Rock, weit ausgeschnittenem Top und aufgeschürftem Knie irgendwo auf der Straße liegen. Nein, mit 27 sollte man sein Leben im Griff haben. Aber bei mir ist das nicht der Fall. Ich bin eine Versagerin.“

„Ach was!“, erwiderte Estelle und rückte ein Stück näher. „Sie sind bestimmt keine Versagerin.“

„Das können Sie doch gar nicht wissen. Sie kennen mich nicht!“

„Sie haben recht, ich kenne Sie nicht. Trotzdem bin ich sicher, dass Sie keine Versagerin sind. Aber jetzt erzählen Sie, was vorhin geschehen ist!“

„Müssen Sie nicht an das Konzert?“

Estelle schaute auf ihre mit kleinen Diamanten besetzte Armbanduhr. „Das beginnt erst um acht. Also, ich höre.“

Nora haderte mit sich. Sie konnte sich unmöglich dieser völlig Fremden anvertrauen. Andererseits sehnte sie sich danach, mit jemandem zu sprechen, und da sie sich ohnehin schon blamiert hatte, kam es auf eine weitere Peinlichkeit nicht mehr an. Sie holte tief Luft. „Ich habe heute meinen Job verloren. Aber es war eigentlich kein richtiger Job. Ich war ... Tänzerin in einer Bar für Männer.“

Estelle horchte auf. „Sie arbeiteten in einer Striptease-Bar?“

Nora seufzte. Genau so hatte sie es nicht ausdrücken wollen. „So kann man es auch sagen“, murmelte sie. „Jedenfalls hat mich heute ein Gast bedrängt. Er wollte mehr. Als ich ihm höflich sagte, dass ich kein Interesse habe, fing er an, mich zu begrapschen. Da verpasste ich ihm eine Ohrfeige.“

„Das hätte ich an Ihrer Stelle auch gemacht.“

„Ja, aber mein Boss sah das anders. Er warf mich raus.“ Sie zeigte auf ihr Knie. „Deshalb die Verletzung. Und jetzt habe ich keinen Job mehr. Dazu kommt, dass ich seit Wochen bei einer Freundin wohne, die mich am liebsten so schnell wie möglich loshaben möchte. Und pleite bin ich auch.“

„Was ist mit Ihrer Familie? Kann die nicht helfen?“

„Meine Familie!“ Nora lachte bitter auf. „Mein Vater hält mich für eine Versagerin. Von ihm kann ich ganz sicher keine Hilfe erwarten. Er hasst mich.“

„Er hasst sie“, wiederholte Estelle leise und presste dann angespannt die Lippen zusammen. Ein dunkler Schleier legte sich über ihr Gesicht.

Nora sah sie irritiert an. „Alles okay?“

„Ja, ich musste nur an ...“ Sie stockte und verschluckte den Rest des Satzes, straffte die Schultern und blickte Nora direkt ins Gesicht. „Nora, das wird schon wieder. Sie finden bestimmt bald einen Job. Sie scheinen ein kluges Mädchen zu sein.“

„Klug? Nein, ich bin nicht klug! Ich habe keinen Schulabschluss und schlug mich all die Jahre nur mit irgendwelchen Gelegenheitsjobs durch.“

„Haben Sie nie etwas gelernt?“

„Nein. Einmal sah es ganz gut aus, ich bekam eine Praktikumsstelle als Empfangsdame in einem Hotel. Tja, aber ich hab’s vermasselt. Kam dauernd zu spät, schlief mit einem Gast und ...“

Estelle hob eine Hand. „Gut, das reicht. Mehr müssen Sie nicht sagen.“ Sie hob den Kopf und schaute einem Flugzeug nach, das weiße Kondensstreifen im Himmel hinterließ. Gleichzeitig strich sie sich das Haar hinter die Ohren, und Nora fand, dass sie mit den leicht abstehenden, ziemlich großen Ohren einer Elfenkönigin glich.

Estelle richtete den Blick wieder auf sie. „Sie haben also an einem Hotelempfang gearbeitet und wissen, wie man Check-ins und Check-outs durchführt?“

„Äh, ja.“

„Welche Hotelsoftware haben Sie verwendet?“

„Protel.“

„Sehr gut.“

Nora runzelte die Stirn. „Warum wollen Sie das wissen?“

„Angenommen, ich hätte eine Stelle für Sie, versprechen Sie mir dann, den Job ernst zu nehmen? Und dass Sie darin eine Chance sehen, Ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen?“

„Sie ... Sie wollen mir einen Job anbieten?“

„Jetzt schauen Sie nicht so misstrauisch und beantworten meine Frage!“

„Ja“, sagte Nora schnell. „Natürlich würde ich den Job ernst nehmen und die Chance nutzen.“

„Gut, dann können Sie am Montag im Grand Beaulieu beginnen.“

 

 

 

Kapitel 3

 

Freitag, 17. Juli 2015

Nora lockerte ihr kratziges orangefarbenes Foulard. Wie sehr sie diese Uniform hasste! In dem dunkelgrauen, viel zu weiten Kostüm, bestehend aus Rock und Blazer, fühlte sie sich nicht nur unförmig, sondern schwitzte auch noch wie ein Bär. Unauffällig strich sie mit ihren feuchten Händen über den Rock. Warum konnte der Empfangsbereich nicht klimatisiert sein? Aber sie durfte nicht klagen. Estelle hatte ihr eine Chance gegeben, und sie war ihr zutiefst dankbar dafür. Sie hatte sich fest vorgenommen, diesmal alles richtig zu machen. Heute war bereits ihr fünfter Arbeitstag im Grand Beaulieu, einem 1890 gegründeten Fünfsternehotel an der Bahnhofstraße in Zürich, der teuersten Shoppingmeile der Schweiz. 

Estelle, Hoteldirektorin des Grand Beaulieu, hatte ihr ein Zimmer im Personalhaus des Hotels organisiert, und Nora war froh, nicht mehr auf der Couch ihrer Bekannten schlafen zu müssen. Ja, sie hatte wirklich Glück gehabt. Vielleicht konnte sie ihrem Vater schon bald einen Teil der Schulden zurückzahlen und sich dadurch wieder etwas Anerkennung verschaffen. Seit einem Streit vor fünf Monaten hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Damals verlor sie ihren Job in einem Callcenter, und gleichzeitig warf ihr Exfreund sie aus der Wohnung, weil sie einen seiner besten Kumpels beleidigt hatte. Verzweifelt bat sie ihren Vater um Geld, wie schon einige Male zuvor. Aber er betitelte sie bloß als Versagerin und meinte, dass sie diesmal selbst schauen müsse und er ihr nichts mehr gebe. Sie solle zuerst ihre Schulden begleichen. Eine Freundin hatte ihr daraufhin ihre Schlafcouch zur Verfügung gestellt, die Suche nach einer neuen Stelle fiel Nora aber schwerer als gedacht. Ungelernte Arbeitskräfte mit schlechten Zeugnissen hatte man nirgends gerne, besonders wenn die Wirtschaft ohnehin nicht rosig aussah. Kurz darauf berichtete eine Bekannte über ihren Job in einer Striptease-Bar und dass dort Tänzerinnen gesucht wurden. Nora überwand ihre Zweifel und redete sich immer wieder ein, wie harmlos der Job sei. Sie musste ja nur tanzen. Dass sie dies halb nackt unter den gierigen Blicken der Männer tat, wurde irgendwann zur Gewohnheit. Dennoch hatte sie sich geschämt und ihrem Vater die Tätigkeit verschwiegen. Aber jetzt hatte sie einen richtigen Job, und diesmal würde sie ihn behalten!

Nora blickte zu Louisa, die neben ihr am schwarzen Marmortresen stand und jammerte. Estelles Enkelin absolvierte derzeit ein Praktikum am Empfang, doch viel Motivation brachte sie nicht mit. Auf das Praktikum hatte sie sich bloß auf Wunsch ihres Vaters eingelassen, der gemeint hatte, ein wenig Berufserfahrung könne vor der Hotelfachschule nicht schaden. Louisa strich ihren Blazer zurecht. Als einzige Empfangsmitarbeiterin durfte sie ein schickes schwarzes Businesskostüm tragen, das ihren kurvigen Körper perfekt betonte.

„Ich verstehe echt nicht, warum ich heute hier sein muss“, maulte sie. „Ich gehöre zur Familie und sollte bei einem so wichtigen Ereignis dabei sein.“ Sie wies mit dem Kopf Richtung Restaurant Coquille dʼOr, aus dem Violinenmusik und Gelächter drangen. Eine Dame in dunkelblauem Abendkleid und silberfarbener Clutch kam ihnen entgegen und fragte den Concierge nach dem Weg zur Toilette.

„Louisa“, beruhigte Nora sie, „sobald Oliver vom Essen zurück ist, hast du Feierabend.“

Louisa blickte auf die Uhr. „Wo bleibt er eigentlich? Als Chef muss er bei einem so wichtigen Ereignis hier sein!“ Sie stampfte auf. „Ich will endlich die goldene Muschel sehen!“

Die goldene Muschel. Nora hatte kürzlich einen Artikel darüber gelesen. Von dem aus der Römerzeit stammenden Relikt existierten auf der ganzen Welt nur zwei, eines thronte seit Jahren im Pariser Louvre und war sogar beliebter als die Mona Lisa. Den Grund dafür kannte Nora nicht, sie wusste bloß, dass es um eine Geschichte ging, die von einem Muschelfischer, dessen Tochter und einem Mönch handelte. Doch aus mangelndem Interesse hatte sie den Artikel nicht zu Ende gelesen.

Sie wusste aber, dass die zweite Muschel nie gefunden wurde. Bis jetzt. Estelles Mann, Eric Le Bloch, Inhaber und Direktor des Grand Beaulieu, war es offenbar gelungen, in den Besitz der zweiten Muschel zu gelangen, und er wollte sie heute Abend anlässlich der 125-jährigen Jubiläumsfeier im Coquille d’Or präsentieren. Seit Tagen schon pries er die Neuigkeit in den Medien an, aber viele glaubten ihm nicht und hielten die Geschichte für einen Marketingtrick.

„Nora? Nora! Ich habe dich etwas gefragt“, rief Louisa.

„Was denn?“

„Bist du auch gespannt auf die goldene Muschel?“

„Ja, sicher“, flunkerte sie. So toll fand sie diese Muschel auch wieder nicht.

Gelangweilt ließ sie den Blick über die volle Hotelhalle schweifen. Bei den meisten Leuten handelte es sich um Gäste der Jubiläumsfeier, gut erkennbar an ihren eleganten Abendroben und den Champagnergläsern in den Händen. Aber auch Hotelgäste schwirrten umher oder saßen auf den beigefarbenen Barocksofas. Ein junger Inder fotografierte seine Frau, die vor einer silbernen Stehlampe posierte. Die ganze Lobby war gut ausgestattet mit erlesenen Kunstobjekten und Antiquitäten, da Eric Le Bloch als Kunstliebhaber großen Wert darauf legte und selbst ein kleines Museum in der Stadt besaß. Nora interessierte sich nicht für Kunst, nahm sich aber fest vor, den Eintrittsgutschein, den sie an ihrem ersten Arbeitstag erhalten hatte, demnächst einzulösen.

Sie bemerkte einen gut aussehenden Typen mit hellbraunem Haar, der angeregt in ein Gespräch mit einem Paar mittleren Alters vertieft war. Nora überlegte fieberhaft, wo sie ihn schon mal gesehen hatte. Da fiel es ihr wieder ein, und sie wandte den Kopf schnell ab. Oh nein! Vor ein paar Wochen war er in der Striptease-Bar gewesen und hatte zusammen mit anderen Typen den Junggesellenabschied eines Freundes gefeiert. Sie waren eine angenehme Gruppe gewesen und hatten am Ende ein großzügiges Trinkgeld hinterlassen.

Verstohlen sah sie wieder zu ihm, und da trafen sich ihre Blicke. Er legte den Kopf leicht schräg und musterte sie eindringlich, bis etwas in seinen Augen aufflackerte und ein Lächeln seine Lippen umspielte. Er hatte sie erkannt.

Louisa stemmte die Hände in die Hüfte. „Wow! Maximilian von Bergen starrt dich gerade an!“

Nora klickte nervös mit dem Kugelschreiber. „Na und, muss man den kennen?“

„Hast du echt noch nie von ihm gehört, Noralein? Der Besitzer der von Bergen Privatbank!“

„Banken interessieren mich nicht.“ Ich habe ohnehin kein Geld, hätte sie beinahe hinzugefügt. „Wer sind die zwei anderen Leute?“

„Keine Ahnung. Aber die Frau sieht aus wie ein fetter Papagei. Oh, und jetzt tanzt sie sogar!“

Nora schaute fasziniert zu, wie sich die exotische Dame mit ausgestreckten Armen im Kreis drehte und dabei den Kronleuchter in der Hotelhalle fixierte. Ihr bunt gemustertes Chiffonkleid flog dabei in alle Richtungen. Plötzlich geriet sie ins Schwanken, kollidierte mit dem fotografierenden Inder und plumpste auf den Boden. Sie lachte laut und ließ sich von ihren Begleitern wieder auf die Beine helfen. Dann begann sie, zusammen mit dem Inder und dessen Frau Selfies zu schießen.

Louisa kicherte. „Echt schräg ... Oh, siehst du die Alte dort in dem öden schwarzen Chanel-Outfit, die gerade auf Maximilian zugeht? Das ist seine Großmutter. Gwendolyn von Bergen.“ Sie streckte stolz die Brust raus. „Meine Mutter gehört zu ihren Best Friends, und Gwendolyns Pferde stehen in unserem Gestüt.“

Nora nickte. Louisa hatte ihr bereits mehr als einmal erzählt, dass ihre Mutter ein Gestüt besaß.

Louisa stibitzte ein Bonbon aus der Silberschale auf dem Tresen, wickelte es aus dem Papier und schob es in den Mund. Sie lutschte die Süßigkeit laut schmatzend und blickte wieder zu Maximilian. „Max ist echt so was von hot! Aber viel zu alt für mich! Schon 34!“ Sie verdrehte ihre runden blauen Augen. „Trotzdem ist er ein guter Fang. Hat Kohle ohne Ende, und seit dem Tod seines Großvaters leitet er das Familienunternehmen ganz alleine.“

„Ach so.“ Nora beobachtete, wie Maximilian sich mit seiner Großmutter unterhielt, den Blick aber immer wieder zu ihr wandern ließ. Sie sah schnell zu Louisa, deren Augen schelmisch blitzten. Nora war dieser Ausdruck inzwischen wohlbekannt. Gleich würde eine von Louisas Tratschattacken folgen.

Louisa näherte sich und schob das Bonbon im Mund hin und her. Nora konnte den Melonengeschmack deutlich riechen. „Weißt du, Max hat echt ’ne traurige Vergangenheit. Seine Eltern starben, als er noch ein Baby war! Er wuchs bei seinen Großeltern auf.“

„Oh.“ Nora wusste nur zu gut, wie es war, wenn man einen Elternteil nicht mehr hatte, aber gleich ohne beide aufzuwachsen? Unvorstellbar. „Was genau geschah mit seinen Eltern?“

„Seine Mutter war ein Junkie und starb an einer Überdosis ... Oh!“ Louisas Mund zuckte, und Nora folgte ihrem Blick zu einem bärtigen Mann, der ein wandhohes Gemälde der Familie Le Bloch bestaunte.

„Dieser Fabrice Leclerc ist immer noch hier!“ Sie drehte sich zu Nora. „Wusstest du, dass er meinem Großvater die goldene Muschel abknöpfen will?“

„Nein, warum?“

„Er ist vom Louvre in Paris. Die denken tatsächlich, dass sie Anspruch auf die zweite Muschel haben, nur weil sie bereits eine besitzen. Aber mein Großvater wird sie ihnen niemals überlassen!“

„Woher hat dein Großvater die Muschel eigentlich?“

„Keine Ahnung. Das wollte er nicht verraten.“

„Und er hat sie wirklich? In den Medien wird gemunkelt, dass ...“ Nora brach ab, als sie Louisas entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte.

„Natürlich hat er sie! Denkst du etwa, mein Großvater ist ein Lügner?“

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Nora rasch.

„Heute wird er allen beweisen, dass er im Besitze der goldenen Muschel ist.“ Louisa betrachtete sich in dem goldumrandeten Spiegel am Empfang und zupfte an ihrem kurzen, schwarz gefärbten Haar. „Ich muss mal aufs Klo.“

Wenig später füllte sich die Hotelhalle mit einer russischen Reisegruppe. Nora begrüßte die rotwangige Reiseleiterin, die ihre Gruppe in lautem Russisch bat, in der Halle Platz zu nehmen. Während sie die Zimmerliste überprüfte, trat ein weißhaariger Mann an den Empfang und warf kommentarlos seinen Pass auf den Tresen. Die Reiseleiterin sah ihn empört an und murmelte etwas auf Russisch.

Nora wurde von Minute zu Minute nervöser. Immer mehr Gäste der Jubiläumsfeier fragten nach Toilette und Garderobe, während das Telefon ununterbrochen klingelte. Sie blickte verzweifelt zu den Concierges, die aber beide mit Gästen beschäftigt waren. Wo blieb Louisa? Die Reiseleiterin klopfte genervt auf den Tresen, und der alte Mann starrte sie grimmig an.

Da kam die Telefonistin auf sie zu. „Nora, ich rufe Oliver in der Kantine an. Du schaffst das nicht alleine. Aber bitte nimm endlich den Anruf entgegen, den ich seit einer Ewigkeit durchstellen will. Ist eine Reservierung.“

Nora griff zögernd zum Hörer. Eine Reservierung! Auch das noch! Gewöhnlich war die Reservierungsabteilung dafür zuständig, aber nach 18 Uhr musste sich der Empfang darum kümmern. Vergeblich versuchte sie dem Mann, der in schnellem Englisch auf sie einredete, zu folgen. Ihre Englischkenntnisse ließen zu wünschen übrig, und besonders Telefongespräche bereiteten ihr große Mühe. Sie nahm sich fest vor, endlich die Lernkarten anzuschauen, die sie von Estelle erhalten hatte.

„Sorry, Sir“, unterbrach sie den Gast. „Please, can you ...“ Oh je, wie sagte man noch mal wiederholen? Repair? Nein. Oder etwa doch?

„Can you repair again?“, fragte sie.

Stille. Nora schluckte. Hatte sie ihn jetzt vergrault? Da erklang ein lautes Lachen am anderen Ende der Leitung. „Sie meinten wohl repeat?“, bemerkte der Anrufer in ziemlich gutem Deutsch. „Repair bedeutet reparieren.“

Nora schlug sich mit dem Hörer leicht gegen den Kopf. Wie peinlich!

Mit ernster Stimme fuhr der Anrufer fort: „Mein Name ist David Preston. Ich brauche vom 10. bis 24. August ein Einzelzimmer.“

Nora klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter, wandte sich dem Computer zu und überprüfte die Verfügbarkeit. Sie erinnerte sich, zuerst immer eine höhere Kategorie anzubieten. „Herr Preston, ich kann Ihnen ein Deluxezimmer zum Preis ...“

„Haben Sie auch Standardzimmer?“, unterbrach er sie.

„Ja. Unser Standardzimmer kostet 420 Franken und ...“

„Können Sie einen Spezialpreis anbieten? Die Hälfte?“

Die Hälfte? Nora wechselte von einem Bein auf das andere, während sie zu den wartenden Gästen am Tresen spähte. „Ich kann Ihnen leider keinen Spezialpreis anbieten, dazu bin ich nicht befugt.“

„Dann fragen Sie jemanden.“

„Äh, ja. Einen Moment.“ Sie drückte die Wartetaste. Wen konnte sie fragen? Oliver war noch nicht zurück, und das ganze Kader nahm an der Jubiläumsfeier teil.

Die russische Reiseleiterin klopfte schon wieder ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tresen. „Können Sie jetzt bitte unser Check-in durchführen? Wir müssen in einer halben Stunde wieder los zum Dinner, aber meine Gäste wollen vorher noch die Zimmer beziehen.“

„Ja, gleich.“ Verdammter Mist! Wo blieben nur Oliver und Louisa?

Da trat Eric Le Bloch an den Tresen. Er schien ihre missliche Lage erkannt zu haben und sah sie fragend an. „Gibt es ein Problem?“

Sie schilderte ihm die Situation, und er schaute konzentriert auf den Belegungsplan. Nora fand, dass Le Bloch mit seinen 69 Jahren noch immer ein attraktiver Mann war. Groß, schlank, volles, grau meliertes Haar und leuchtend blaue Augen.

Er blickte sie an, und Nora hoffte, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte. „Offerieren Sie ihm das Zimmer für 210.“

„In Ordnung, danke, Herr Le Bloch.“

Sie erwartete, dass er gleich wieder gehen würde, aber er empfing freundlich die russische Reiseführerin und begann, das Gruppen-Check-in durchzuführen.

Erleichtert widmete sich Nora dem Anrufer.

 

Kurze Zeit später trudelten die Russen nach dem Zimmerbezug bereits wieder in der Halle ein. Viele wechselten bei Nora und Oliver, der inzwischen auch aufgetaucht war, ihre Rubel in Schweizerfranken. Die Reiseleiterin stand ungeduldig da und schaute immer wieder auf die Uhr. „Davaite, poshli. My uze opazdyvaem!“, rief sie in lautem Russisch zu ihren Gästen.

Als die Gruppe weg war, informierte Nora ihren Chef über die neue Reservierung. Er schnappte nach Luft und rückte seine Nickelbrille zurecht. „210!“ Ungläubig betrachtete er das Reservierungsformular. „Der alte Le Bloch ist mal wieder großzügig. Wenn das sein Sohn erfährt!“ Er legte das Formular weg und sah sich um. „Wo ist eigentlich Louisa?“

In dem Moment bog diese lächelnd um die Ecke.

„Wo warst du?“, fragte Oliver streng.

„Auf der Toilette. Und dann bin ich noch diesem süßen Typen begegnet. Ist Aushilfskellner ... Oliver, jetzt, wo du zurück bist, kann ich bestimmt Feierabend machen? Ich will endlich ins Restaurant. Gleich wird mein Großvater die goldene Muschel präsentieren.“

Oliver hatte es offenbar die Sprache verschlagen, und er schaute Louisa an, als käme sie von einem anderen Stern. Ehe er etwas erwidern konnte, wurde seine Aufmerksamkeit auf ein verheult aussehendes Zimmermädchen gelenkt, das die Treppe runtergerannt kam. „Kiku! Was ist los?“

Kiku war völlig außer Atem, und ihre runden Wangen waren flammend rot. Nora ging auf sie zu und strich ihr vorsichtig über den Rücken. Obwohl sie das japanische Zimmermädchen erst seit ein paar Tagen kannte, hatte sie sich bereits mit ihr angefreundet. Kiku war zwei Jahre jünger als sie und arbeitete neben ihrem Medizinstudium im Grand Beaulieu als Teilzeitkraft. Jetzt, während den Semesterferien, war sie fast täglich hier.

Die beiden Concierges hatten sich inzwischen auch genähert und sahen Kiku fragend an.

„Kiku, was ist passiert?“, fragte Nora sanft.

Kiku wischte eine Träne von der Wange. „Herr Le Bloch ... er  ... er ist tot! Er liegt in seinem Büro auf dem Boden und hat eine große, blutende Wunde am Hinterkopf! Ich glaube, er wurde ermordet! Das Büro ist ganz durchwühlt!“

Antonio, der Chefconcierge, griff zum Telefon und winkte gleichzeitig einen Sicherheitsmann und zwei Portiers herbei, die am Eingang standen.

Oliver und Nora sahen schockiert zu Kiku, Louisa schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das kann nicht sein!“, schrie sie. „Du irrst dich!“ Sie rannte davon Richtung Treppe, da erschien Estelle in Begleitung ihres Sohnes. Louisa fiel ihrem Vater in die Arme. „Oh Papa!“

„Louisa! Was ist los?“

„Kiku behauptet, dass Großvater ermordet wurde!“

Estelle und ihr Sohn rissen die Augen auf. „Ermordet?“

„Sie muss sich irren!“, schrie Louisa und rannte die Stufen hoch, dicht gefolgt von ihrem Vater, Estelle und Oliver.

Nora blieb verdutzt zurück und schaute zu Antonio, der noch immer telefonierte und inzwischen umringt war von den Portiers und dem Sicherheitsmann.

„Ich bin mir ganz sicher, dass er tot ist“, sagte Kiku zu Nora. „Ich studiere Medizin! Er atmet nicht und ...“ Sie sah zu Antonio, der den Hörer aufgelegt hatte und seinen strengen Blick über die Anwesenden wandern ließ.

„So, die Ambulanz ist auf dem Weg. Die Polizei auch. Wenn Le Bloch wirklich ermordet wurde, müssen wir schauen, dass niemand das Hotel verlässt! Keine Hotelgäste, keine Restaurantgäste, keine Mitarbeiter, niemand!“ Er strich mit dem Zeigefinger über seinen dicken schwarzen Schnurrbart und blickte finster unter den buschigen Brauen hervor. „Sollte hier irgendwo ein Mörder sein, darf er auf keinen Fall entkommen.“

 

Die gediegene Hotelhalle verwandelte sich in den kommenden Stunden in einen regelrechten Zirkus, und Nora fühlte sich wie im falschen Film. Es wimmelte nur so von Polizisten, welche die Gäste und Mitarbeiter befragten und beruhigten. Die meisten Gäste wirkten ängstlich, traurig oder nervös. Es gab aber auch Neugierige und Sensationslustige unter ihnen, die trotz Verbot der Polizei immer wieder Fotos schossen und sogar versuchten, in die erste Etage zu gelangen. Und dann gab es die Aufgebrachten, wie der kleine Amerikaner, der die ganze Zeit rumschrie, weil er das Hotel nicht verlassen durfte.

Doch am schlimmsten empfand Nora das andauernde Klingeln des Telefons. Es machte sie so rasend, dass sie ernsthaft erwog, den Stecker rauszuziehen. Oliver beruhigte sie, und Nora war froh, dass er im Gegensatz zu den anderen gelassen blieb und die ganze Situation recht gut unter Kontrolle hatte. Durch ihn erfuhr sie auch, dass Kiku mit ihrer Annahme richtiggelegen hatte: Eric Le Bloch war tatsächlich ermordet worden. Erschlagen mit einem harten Gegenstand, den die Polizei noch immer suchte.

Nora beobachtete einen Polizeihund, der in einer Ecke herumschnüffelte, da trat plötzlich Maximilian von Bergen auf sie zu und beäugte sie mit seinen stahlblauen Augen prüfend.

Nora schluckte. Was wollte der denn ausgerechnet jetzt?